Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 30.03.2014

Jetzt kann jeder Kempowski sein

 

Sechs Jahre nach dem Tod des großen Autors und Sammlers erscheint „Plankton“: Alltagsgeschichten, die man im Netz fortschreiben darf

 

Von Volker Weidermann

Vielleicht hat Walter Kempowski zum Beispiel dieses Buch hier gemeint, als er spät im Leben sagte: „Je älter ich werde, desto öfter denke ich an das Weiterleben nach dem Tod, nicht im Sinne eines christlichen Paradieses, sondern dass die toten Seelen immer um uns sind, uns umschwirren.“ Vor sechseinhalb Jahren ist der Schriftsteller Walter Kempowski gestorben, er hinterließ ein gigantisches Erinnerungswerk, eine Felslandschaft deutscher Geschichten und Geschichte, die neunbändige „Deutsche Chronik“, die Romane und Befragungsbände vereint, die zehn Bände des „Echolots“, in denen er Erinnerungsstücke des letzten Jahrhunderts zu einem großen Geschichtsbild zusammenfügte.

Und nach seinem Tod wird sein Werk fortgesetzt. Er hatte früh dafür gesorgt, dass der alte Autorenbegriff viel von seiner ehrfurchtgebietenden Heiligkeit verlor, er umgab sich mit Mitarbeitern, Sammlern, Arrangeuren, Archivaren, Zuhörern, Softwarespezialisten, mit denen er gemeinsam die Erinnerungen zusammentrug und zusammenstellte. „Echolot“ und „Deutsche Chronik“ sind abgeschlossen, da kommt auch nichts mehr.

Aber Walter Kempowski hat fünfzig Jahre seines Lebens mit einem anderen Sammelprojekt verbracht, das er schon früh „Plankton“ nannte. Mit dem kleinen schwarzen Notizbuch, das er stets bei sich trug, war er immer bereit, „Plankton zu fischen“, wie ein Wal, der die kleinsten, beinahe unsichtbaren Organismen vom Meeresgrund sammelt und filtert, die er zum Leben braucht.

So ging Walter Kempowski durchs Leben. Mit Fragen, mit Stift, mit offenen Ohren. Er fragte beinahe jeden, den er traf, Wartende an Bushaltestellen, Frisöre, Verleger, Bankberater. Anfangs fragte er gezielt, wie etwa für seinen ersten kompakten Befragungsband „Haben Sie Hitler gesehen?“, aber später weitete er sein Fragenspektrum ins Totale: „An welche Brücke erinnern Sie sich?“, „Erinnern Sie sich an einen Stau?“, „Ihr erster Toter?“, „Wie war Ihre Mutter?“, „Welchem Prominenten sind Sie begegnet?“, „Ein Möbelstück Ihrer Kindheit?“ Und so weiter. Kempowski fragte und notierte ins Notizbuch oder auf Tankquittungen und Servietten.

Leben als Frage. Er selbst hat es so geschildert: „Es ist eigentlich ganz egal, wo man das Plankton fischt. Ob im Foyer eines Hotels, ob in der Bahn im Abteil oder unter Freunden. Niemand wundert sich darüber, daß ich mein schwarzes Büchlein zücke und einfach mitschreibe. Oft ist es so, daß sie direkt stolz sind. Nie ist es ihnen in ihrem Leben passiert, daß sie so intensiv befragt wurden. Und das bewegt sie.“ Walter Kempowski hat einmal eine Skizze angefertigt, auf der er seinen großen Werkplan in dünnen Strichen andeutet. Unten ein See, oder auch „Schlamm“, wie er es selber nannte, mit kleinen Teilchen darin, darin steht „Plankton“, von da aus führen Pfeile nach oben zu einer mittleren Eben, dem „Echolot“, von dort führen zwei dicke Pfeiler nach ganz oben zur „Deutschen Chronik“, und von dort oben scheinen, wie bei einem Regenkreislaufmodell, die Teilchen wieder herabzuregnen, zurück in den Urschlamm des Erzählens, in den Planktonsee zurück. Und dieser See liegt nun also, mehr als sechs Jahre nach Kempowskis Tod, als schön gebundener, achthundert Seiten starker violetter Leinenband vor.

Beim Lesen ist der erste Eindruck: Chaos, komplettes Durcheinander. Als habe ein Kobold in einem unbewachten Moment alle „Echolot“-Bände, die Bände der „Chronik“ und alle anderen Kempowski-Bücher in Einzelteile zerschnitten, um eigene kurze Geschichten ergänzt und dann mühsam wieder neu zusammengeklebt. So fängt es an: Eine im Jahr 1970 geborene Studentin erzählt, dass sie einmal Costa Cordalis begegnet sei, eine Französin, Jahrgang 1968, war sieben Jahre alt, als sie zum ersten Mal in Deutschland war, sie war beeindruckt von den Passkontrollen an der Grenze und fand es fürchterlich, dass sie Schwarzbrot essen musste. Dann berichtet ein Volkswirt, Jahrgang 1929, dass er im Zweiten Weltkrieg nicht viel erlebt hat, und eine Frau, 1968 geboren, dass ihre erste Liebe gerne Camembert der Firma „Rotkäppchen“ aß.

So geht es weiter. Kriegserlebnisse, Gerüche, Gedichte, Prominente, die keiner mehr kennt, Hitler-Beobachtungen, Lieblingsessen, Brücken, Staus, Tiere, Reisen. Man liest, man liest, Chaos im Buch, Chaos im Kopf, ein großes Durcheinandertal. Es ergibt zunächst einmal gar nichts. Was hat sich Walter Kempowski dabei gedacht? Er war vor allem von dem Gedanken besessen, retten zu müssen, Erinnerungen, Gespräche, Erlebtes zu retten. Angefangen hatte das, als er als politischer Gefangener in den vierziger und fünfziger Jahren acht Jahre lang in Bautzen eingesperrt war. Der Chor des Gewispers und Gemurmels der Mitgefangenen, all die Gespräche über ihre Leben, die, in die Luft gesprochen, kaum gesprochen schon vergangen sind, das stand am Anfang seines Schreibens. Und später dann die Befragung seiner Mutter. Ihre Lebenserzählungen waren der Grundstein seines Romanwerkes. Als Dorfschullehrer hat er seine Unterrichtsstunden dann immer mit der Frage „Was gibt es Neues?“ begonnen und auf der Grundlage der erzählten Schülerneuigkeiten spontan die Unterrichtsstunde aufgebaut.

Und auf den Berichten der Menschen fußt sein literarisches Werk. „Plankton“ gehörte immer zum Plan. Der große Weg zurück. Das De-Arrangieren nach der großen, langen Arbeit des Arrangierens. Denn „Plankton“ ist ungefähr so entstanden, wie es beim Lesen wirkt: Also es war nicht gerade ein Kobold, der hier alles durcheinandergebracht hat, und eine Schere war natürlich auch nicht mehr nötig, aber Kempowski ließ noch zu Lebzeiten ein Softwareprogramm entwickeln, das eine beliebige Textmenge in beliebiger Form durcheinanderwirbelt und neu zusammensetzt.

Die Software als Autor. Er selbst, Kempowski, ist nicht mehr nötig. Und auch das Sammeln sollte nach seinem Tode weitergehen. In seinem Tagebuch hatte er es 1997 so beschrieben: „Es gilt, die Kristalle aufzusammeln, die vom Zeitstein zerdrückt, zermalmt werden. An ,Plankton‘ sollte weiter gesammelt werden, auch ,wenn schon alles aus ist‘“. Und so hat eine seiner langjährigen Mitarbeiterinnen, Simone Neteler, die auch als Herausgeberin von „Plankton“ fungiert, die Jahre nach seinem Tod fleißig weitergesammelt, hat Zufallsmenschen zufällige Kempowski-Fragen gestellt und aufgeschrieben. Die hat sie noch mit untergemischt, unter das aktuelle Material. Ein Buch in Bewegung, lebendige Literatur.

Das ist aber noch nicht alles. Denn auf www.kempowski-plankton.de kann jeder mitmachen: Man kann sich anmelden, dann werden einem bis zu acht zufällig ausgewählte Kempowski-Fragen gestellt, die Antworten werden dann dem Textschlamm beigemengt, alles wird neu arrangiert, am Ende kann man sich sein individuelles „Plankton“-Werk für 89,99 Euro drucken, binden und zuschicken lassen. Ich habe das leider noch nicht ausprobieren können, das Projekt beginnt erst Anfang April, aber im Grunde ist das erst die Vollendung des „demokratischen Kunstwerks“, von dem Kempowski sich immer gefragt hatte, ob es das geben kann: „Sie erzählen, und ich werfe die Geschichten mit dem Bildwerfer an die Wand. – Gibt es so was wie demokratische Prosa?“, hatte er in „Alkor“ geschrieben.

Es ist herrlich, dass es dieses Buch jetzt gibt, all diese unterschiedlichen Kempowski-Bücher. Es ist wirklich so, als gäbe der alte Mann, als schwebende Erinnerung, als literarische Summe, aus dem Grab heraus den Menschen ihre Geschichten zurück. Er selbst hatte geschrieben, dass „mit ,Plankton‘ die Literatur an eine Grenze gerät, von der aus oder an der sie umkehrt, zurückkehrt zum Geraune der Menschen am Feuer“. Oder eben auch: zurück auf den Gefängnishof in Bautzen, wo sich die Gefangenen ihre Leben erzählten und das literarische Werk Walter Kempowskis begann.

Ob es aber gelungen ist, „Plankton“, als Werk? Im Grunde kann auch das nur jeder Leser selbst entscheiden. Ob das versammelte Geschichtenmeer eine gute, neue Geschichte ergibt? Es ist auf jeden Fall eine neue Art, die alte Welt zu erzählen. Und jeder Leser kann sie so lange mischen, bis sie ihm gefällt.

Walter Kempowski: „Plankton“. Ein kollektives Gedächtnis. Herausgegeben von Simone Neteler. Knaus-Verlag, 832 Seiten, 49,99 Euro. Und unter kempowski-plankton.de als individueller Mitmachkempowski für 89,99 Euro

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